Carl Diez stammte aus der Bodenseeregion und hatte gemäß dem Tagblatt vom Oberrhein eine enge Verbindung zu Jestetten. Ab 1912 gehörte er dem Reichstag an. Beim Attentat auf Matthias Erzberger 1921 wurde auch Diez verwundet.
Bei der Abstimmung über Hitlers Ermächtigungsgesetz 1933 fehlte Diez, womit er als einziger Abgeordneter des Zentrums dem Ermächtigungsgesetz nicht zugestimmt hat. Das Attentat auf Erzberger und sein eigenes konsequentes Verhalten haben dazu geführt, dass Diez mehrfach verhaftet worden ist; ein "Stolperstein" vor seinem Wohnhaus erinnert noch heute daran.
Weitgehend vergessen ist die Verständigungskonferenz vom Mai 1914, Parlamentarier aus Frankreich und Deutschland haben sich in Basel getroffen.
Jestetten. Wahlversammlung. Für die am Sonntagnachmittag stattgefundene Wählerversammlung konnte erfreulicherweise Herr Landwirt und Reichstagsabgeordneter Diez-Radolfzell gewonnen werden, ein Mann, der sich in seinen jungen Jahren viel in hiesiger Gemeinde aufhielt und seither nie die Beziehungen mit dem Zollausschlußgebiet verlor. Seit seiner Berufung in den Reichstag wurde er schon einige Mal beauftragt, die Berliner Ministerien auf die Notlage der Zollausschlußbewohner aufmerksam zu machen. Daß der Erfolg aber nicht immer den Erwartungen entsprach, ist bestimmt nicht seine Schuld. In seiner Rede behandelte er eingangs die Außenpolitik des Zentrums. Dieselbe werde mit allen Mitteln bekämpft. Erzberger und Rathenau ließen sogar das Leben hierfür. Heute sieht man auch in jenen Kreisen ein, daß die Linie des Zentrums die richtige war und auch heute noch ist. Dann kam er auf die drückende Notlage der Landwirtschaft zu sprechen und bewies, daß das Zentrum im alten Reichstag sich alle Mühe gab, dieselbe zu lindern. Auch im neuen Reichstag werde es dafür kämpfen, daß der Landwirt seine Produkte nicht unter dem Selbstkostenpreis verschleudern muß, daß die Steuerlast gemildert und der Zinsfuß gesenkt wird. Auch die kulturellen Güter unseres Volkes wie Eheschutzgesetzgebung, Kampf gegen Schmutz und Schund und das Elternrecht bei der Schulerziehung, die ja bekanntlich im Vordergrund des Interesses stehen, werden nur beim Zentrum richtig gewahrt werden. Der Vorsitzende der hiesigen Ortsgruppe der Zentrumspartei, Herr Werkmeister, dankte dem Redner für eine mit großem Beifall aufgenommene Rede und eröffnete die Diskussion. Der Herr Reichstagsabgeordnete wurde über den Stand der Verhandlungen zwischen Württemberg und Baden zwecks Zusammenschluß der beiden Länder, über die Gehaltserhöhung der Staatsbeamten, sowie über das Notprogramm der Landwirtschaft um nähere Auskunft gebeten. Auch wurde angeregt, statt der bisherigen Brandversicherung eine Art Lebensversicherung für die Häuser einzuführen, etwa so, daß der Versicherte in 80 oder 100 Jahren die Versicherungssumme ausbezahlt bekommt, wenn das Gebäude nicht vorher abbrennt. Gerügt wurde ferner auch, daß im Zollausschluß gewachsene Produkte nur in den Bundesstaat Baden, nicht aber in die übrigen Länder zollfrei eingeführt werden dürfen. Für Produkte, die nicht im Zollausschluß erzeugt sind, wird ja bekanntlich auch vom Lande Baden Einfuhrzoll erhoben. Allen Fragestellern wurde erschöpfende und fachgemäße Auskunft zuteil. Glücklich können wir im Zollausschluß uns schätzen, daß dieser Abgeordnete, der die Eigenart unserer Verhältnisse genau kennt, auf der Kandidatenliste steht. Gerne wollen wir die Aufforderung in der Schlußansprache des H. H. Pfarrers Braun befolgen und unser Kreuzlein in Nr. 3 machen, denn damit haben wir einen Mann gewählt, der unsere Interessen vertritt.
(Tagblatt vom Oberrhein, 15. Mai 1928)
Carl Diez liefert in seinem Buch "Die Lebensgeschichte eines Menschen" (1929) als einziger Begleiter Erzbergers bei seinem letzten Spaziergang und somit als einziger Zeuge des Attentats eine eindrückliche Schilderung der Vorgänge am 26. August 1921.
Noch während wir über diese Dinge sprachen und ich ihm meine Freude über dieses Resultat ausdrückte, hörte ich Schritte von Menschen hinter mir, und ohne diese zu sehen, war ich sicher, daß es die gleichen seien, die uns vor einiger Zeit überholt hatten. Ohne im geringsten darauf vorbereitet zu sein – auch Erzberger äußerte keinerlei Verdacht – standen tatsächlich die beiden jungen Männer plötzlich vor uns, beide gleichzeitig die Revolver auf Erzbergers Stirn und Brust gerichtet, und ehe ich mir des Vorganges bewußt wurde, waren zwei Schüsse gefallen, von denen nach meinem Dafürhalten beide tötlich sein mußten. Es war nun weder Ueberlegung meinerseits, noch etwa Tollkühnheit, als ich versuchte, mit meinem Regenschirm – den ich von dem in Peterstal sich aufhaltenden Geistlichen Rat Ruf von Singen geliehen hatte – zuzuschlagen. Es kam nicht dazu, denn im selbigen Augenblick erhielt ich von einem der beiden eine Kugel seitlich in den linken Oberarm, die auch noch die Brust und die Lunge durchschlug, eine Rippe verletzte und unmittelbar vor der Wirbelsäule zum Stillstande kam. Augenblicklich wurde ich zu Boden gestreckt. Es fiel noch ein Schuß, von dem ich bestimmt annahm, daß er vom Rücken her ebenfalls durch meine Brust gegangen sei. „Nun wirst du noch eine weitere Kugel erhalten und dann bist du tot“, das war alles, was ich denken konnte. Ein Augenblick der Ruhe folgte, nach welchem ich noch mehrere Schüsse seitlich der Straße hörte, teilweise dumpf, wie wenn diese mit der Waffenmündung auf Kleiderstoffe abgegeben worden wären. Dann Stille. Die ganze Tragödie hatte sich ohne einen menschlichen Laut abgewickelt in wenigen Sekunden. Ich lag auf dem Gesicht am Boden. Es mögen wenige Minuten gewesen sein, als ich versuchte, aufzustehen. Dies gelang mir. Mein linker Arm baumelte, da seine Knochen zerschossen waren. Eine breite Blutspur ließ mich nicht im Zweifel, wo ich nach Erzberger zu suchen hatte. Alsbald sah ich ihn auch leblos am Fuße einer Tanne liegen. Ich begab mich, meine schwere Verwundung nicht fühlend, zu ihm über die Straßenböschung. Wie friedlich schlummernd lag er da, das Gesicht jedoch stark mit Blut überlaufen. Sicher kam er nicht zum Bewußtsein dessen, was vor sich ging. Ahnungslos erfolgter der Ueberfall durch die beiden Mörder. Kaum stunden sie vor uns, waren die ersten beiden tödlichen Schüsse in Stirne und Brust Erzbergers gefallen. Sein Sprung über die Straßenböschung kann nur eine reflektive Bewegung gewesen sein, kein bewußte, gewollte. Dieser vorzügliche Mann war als unschuldiges Opfer im Dienste für sein Vaterland gefallen.
„Der Weg zur Ewigkeit
Ist gar nicht weit.
Um 10 Uhr ging er fort,
Um 11 Uhr war er dort.“
Der Haß seiner politischen Gegner scheute vor dem Morde nicht zurück.
Bei dem toten Freunde stehend, sah ich die Mörder in geringer Entfernung zwischen den Bäumen des Waldes. Nunmehr erst packte mich die Angst, und ich strebte aus dem Bereiche der Revolverkugeln der Mörder hinweg und hin zu Menschen. Zuerst glaubte ich dies am schnellsten durch ein wegeloses Wald- und Wiesental zu erreichen, die Erkenntnis meiner schweren Verwundung ließ mich jedoch davon absehen. Denn wenn ich unterwegs zusammengebrochen wäre, hätte ich unbemerkt sterben können wie ein zu Tode getroffenes Reh im Dickicht des Waldes. Ich kroch nun wieder Böschung hinauf auf die Landstraße. Bald traf ich einen Kurgast von Bad Griesbach, eine Hamburger Dame namens Landsberger. Mit wenigen Worten machte ich sie auf das Vorgefallene aufmerksam und bat sie, mich nach Griesbach zu begleiten, da ich von Kugeln getroffen sei und nicht wisse, wie weit ich mich schleppen könne. Die Antwort dieser Dame war: „Wie konnten Sie nur mit Erzberger zusammen spazieren.“ Scheu ging sie am äußerten Straßenrande und unwillig mit mir. Ein Schwächeanfall zwang mich, auf einen Randstein an der Straße mich zu setzen. Kein Ausdruck der Teilnahme oder von Hilfe war zu erkennen. Auch als ich meine Sorge äußerte, „wie werde ich der armen Witwe Erzberger das Furchtbare mitteilen“, war nicht zu erkennen, daß diese Dame Mitleid mit dieser so schwer heimgesuchten Frau habe.
Ebenfalls in seiner Lebensgeschichte beschreibt Diez eine Episode im Jahr 1914. In Basel fand am 30. Mai eine Konferenz mit Parlamentsabgeordneten aus Frankreich und aus Deutschland statt.
Jedem Einsichtigen war es klar, daß nur eine Vereinigung der politischen Atmosphäre zwischen Frankreich und Deutschland den Frieden Europas sichern konnte. Von diesem Gedanken ausgehend traten in den letzten Junitagen 1914 in Basel im Hotel zu den drei Königen eine Anzahl Parlamentarier beider Länder zu einer offenen Aussprache zusammen. ... Der Wille zu gegenseitigem Verstehen war auf beiden Seiten vorhanden.
Die Konferenz in Basel ist weitgehend vergessen; sie fand auch wenig Beachtung in der Berichterstattung. Interessanterweise war es der "Graubündner General-Anzeiger", der am 13. Juni 1914 ausführlich berichtete. Es wird mit Sympathie über die Konferenz berichtet, um dann aber kritisch die Möglichkeiten zu diskutieren. Erwähnt wird auch, dass die Konferenz nur ein kleines Presseecho gefunden hat. Und prophetisch auch hier die Bemerkung zu den Folgen der Aufrüstung: "Und dann? Dann wird halt losgeschlagen, weil man sich dazu ... gezwungen sieht." Vermutlich wurde dieser Artikel/Kommentar von Georg Fient als verantwortlichem Redaktor der Zeitung geschrieben.
(es war wohl der Abgeordnete Ludwig Frank, der diese Konferenz und die Vorgängerkonferenz in Bern von deutscher Seite aus organisiert hat)
Mit "Zentrumsstreit" bezeichnet man eine interne Auseinandersetzung über das Selbstverständnis der Zentrumspartei. Im "Kulturkampf" des ausgehenden 19. Jahrhunderts wurden Katholiken und die katholische Kirche auf vielfältige Art unter Druck gesetzt, die Zentrumspartei entwickelte sich in dieser Zeit zu einer "katholischen Partei" mit katholischen Mitgliedern, katholischen Wählern und katholischen Abgeordneten, die Zentrumspartei als verlängerter Arm der Kirche.
Mit dem Nachlassen der staatlichen Repressionen wurden Stimmen laut, die eine Öffnung forderten, und so erklärte der Vorstand der Zentrumsfraktion im Reichstag im Jahr 1909, dass das Zentrum eine "nichtkonfessionelle Partei" sei.Über Jahrzehnte hinweg wurde darüber immer wieder diskutiert und gestritten; und dass sich die Zentrumspartei nie zu einer durchgehenden Öffnung hat durchringen können, das war wohl mit ein Grund zur fatalen Zustimmung zu Hitlers Ermächtigungsgesetz 1933.
Der mit Jestetten verbundene Reichstagsabgeordnete Carl Diez (1877-1969, Abgeordneter 1912-1933) war natürlich auch in die Diskussionen im Zentrumsstreit involviert, der Nachlass Carl Diez´ im Stadtarchiv Singen erlaubt interessante Einblicke in seine Position.
Dass Diez in die Diskussionen eingebunden war, das zeigt sich schon in einer Art Materialsammlung mit einem Ausschnitt eines gedruckten Textes: "Das Zentrum ist eine grundsätzliche politische, nicht konfessionelle Partei."
In einem leider nicht datierten Redemanuskript geht Diez genauer darauf ein. Er führt aus, dass sich das Zentrum auch für die Belange anderer Konfessionen und Religionsgemeinschaften eingesetzt hat. Als gläubiger Katholik ist für Diez die Stellung der Kirche klar: "Papst & Bischöfe sind die von Gott berufenen Fürsten der Kirche." Im Bereich der Politik "sind und fühlen wir uns jedoch völlig unabhängig." Es sei im "wohlverstandenen Interesse der Kirche", nicht in den politischen Tageskampf hereingezogen" zu werden.
Dass es auch wirklich ein Streit gewesen ist, das zeigt sich am Schluss des Redetextes: "Es ist bedauerlich, dass diese Binsenwahrheiten erst Urbi et Orbi festgestellt werden mussten. Dass unsere Gegner uns mit derlei Waffen bekämpften, wussten wir zu ertragen, dass aber diese Kundgebung zur Klärung im eigenen Lager nötig wurde, ist bedauerlich."
Die Bereitschaft zur Offenheit führte Diez dann nach dem Krieg aus der alten Zentrumspartei von vor 1933 in die neue CDU, im Redemanuskript "Vertrauensmänner 23. Januar 1946 Radolfzell" ist zu lesen:
Carl Diez zeigt sich hier klar als Vordenker der CDU.
Die Offenheit gegenüber Menschen anderer Herkunft zeigt sich an einer Anekdote aus der Kriegszeit in Rumänien. Diez beobachtet die Trauer eines Zigeuners* um die verstorbene Ehefrau. Das Ergebnis sind folgende Ausführungen:
Immer beim Tode eines Menschen überkommt uns das Gefühl der inneren Verbundenheit aller Menschen, ragt Jenseitiges herein in unsere natürliche Umwelt. Des gleichen Gottes Odem gab jener Zigeunerin und mir das Leben, zu gleichem ewigen Ziele war jene, bin ich bestimmt. Des gleichen Vaters Kinder sind wir Menschen, daher Brüder, auch wenn wir hassen.
Ein anderes, ebenso unvergeßliches Erlebnis hatte ich Ende Mai 1917. Zwischen dem rumänischen Bauerndorfe Ileana im Distrikt Ilvov und Sandulita-Sarrlesci wurde in einem Getreidefelde die schon stark in Verwesung übergangene Leiche eines deutschen Dragoners vom Regiment König Nr. 20 (Stuttgart) aufgefunden. Er trug Winterhandschuhe und wurde zweifellos beim deutschen Vormarsch auf Patrouille abgeschossen. Er dürfte also etwa seit Ende Dezember hier gelegen haben. Neben ihm lag ein katholisches Gebetbuch, in welchem er sich, todwund, Trost und Stärke für seine große Reise in die Ewigkeit suchte. Wir bestatteten ihn auf dem um die Kirche von Ileana gelegenen Friedhof. Algerische Kriegsgefangen, die auf dem Gute des Danabassi beschäftigt waren, trugen den Sarg. Ein katholischer Feldgeistlicher war nicht zu erreichen, dagegen war ein evangelischer auf einer Dienstreise anwesend. Dieser begleitete den Sarg. ... Zigeuner hatten das Grab geschaufelt. Die Militärpolizei des Ortes hatte sich eingefunden. Die Algerier stellten sich in Reih und Glied mit den deutschen Soldaten in würdiger Haltung. ... Ich kommandierte eine Ehrensalve und jeder von uns gab dem toten Kameraden eine Hand voll Erde auf den Sarg, die dadurch zur Heimaterde geworden war, in der er nun ruht bis zur Auferstehung allen Fleisches. Ein katholischer Soldat wurde von mohammedanischen Soldaten zu Grabe getragen. Ein evangelischer Geistlicher sprach ihm das Grabgebet und auf orthodoxem Friedhofe liegt er nun begraben, in einem Grabe, das Zigeunern geschaufelt hatten. "Die Erde ist überall des Herrn", und des gleichen Vaters Kinder sind wir Menschen, daher Brüder, auch wenn wir uns hassen.
* Auch wenn die Bezeichnung "Zigeuner" mittlerweile als diskriminierend angesehen wird, so wurde die Fassung so aus dem Buch übernommen. Denn Diez verwendet diese Bezeichnung nicht zur Abgrenzung; es ist die damals geläufige Bezeichnung.
Am 27. August 1923 fand in Jestetten eine Protestversammlung des Zollausschlussgebietes vor der Schule statt. Involviert war auch Carl Diez. Im Buch "Jestetten und seine Umgebung" ist zu lesen:
Nachdem im Juli 1923 dann noch weitere Verbrauchssteuern auf das Zollausschlußgebiet erstreckt wurden, war die Empörung unter der Zollausschlußbevölkerung groß. Sowohl in der am 12. August 1923 im Rathaus in Jestetten stattgefundenen Besprechung, in welcher Vertreter der Gemeinden und Interessen-Vereinigungen anwesend waren, sowie auch bei der am 27. August 1923 in Jestetten stattgefundenen, aus dem ganzen Zollausschlußgebiet rege besuchten Protestversammlung, bei welcher Herr Reichstagsabgeordneter Dietz, Radolfzell, und Vertreter von Behörden zugegen waren, wurde von der Bevölkerung zu den neuen Verbrauchssteuergesetzen, die nun auch innerhalb des badischen Zollausschlußgebietes zur Einführung gelangten, sowie zu der bereits eingeführten Tabaksteuer Stellung genommen und einstimmig der Beschluß gefaßt, beim Reich gegen die neue Art der Steuereinführung, die letzten Endes auf Aufhebung des Zollausschlusses hinauslaufe, zu protestieren und auf alsbaldige Außerkraftsetzung der Bestimmungen hinzuwirken.
Am 25. Oktober 1931 hielt Carl Diez erneut eine Rede in Jestetten, und das "Tagblatt vom Oberrhein" berichtete am 28. Oktober 1931 darüber.
Im Bericht wird der Name mit "Dietz" statt "Diez" falsch angegeben.
Auffallend ist vor allem, dass die Auseinandersetzung mit den anwesenden Nationalsozialisten den Hauptteil der Berichterstattung ausmacht; der inhaltliche Teil der Rede von Carl Diez wird lediglich am Anfang des Artikels kurz gestreift.
Jestetten. Zentrumsversammlung. Im Rahmen der allgemeinen Versammlungsaktion, die im ganzen Bezirk stattfand, wurde auch hier letzten Sonntag eine Zentrumsversammlung abgehalten. Als Redner hierzu war Herr Reichstagsabgeordneter Dietz-Radolfzell erschienen. In dreiviertelstündigen Ausführungen entwarf er ein Bild der heutigen Lage, berührte Pfundkrise und Währungsfrage in England, die amerikanischen Bankzusammenbrüche, Frankreichs einsetzende Arbeitslosigkeit, den Erfolg der Regierung Brüning, die Aufrollung der Reparationsfrage von außen, die Reichsverfassung, die Zusammenhänge von Religion und Politik u.a.m. Der größte Teil der Versammlung war der Diskussion gewidmet. Die Nationalsozialisten, die Zuzug von auswärts erhalten hatten, waren nämlich sehr zahlreich erschienen. Als ersten Diskussionsredner schickten sie Herrn Schmid-Ueberlingen vor, der, wie er sagte, an diesem Abend nur zufällig (!) in Jestetten war. In längeren Darlegungen entwickelte er seine Ansichten, und suchte hierbei vor allem den Katholiken den Nationalsozialismus schmackhaft zu machen. Neben einem nationalsozialistischen Arbeiter, der in bewundernswerter Unbekümmertheit alle möglichen Probleme anschnitt, und aber keines zu Ende führte, beteiligte sich auch ein Herr Keil, Sturmführer der SA., wie er sich nannte, und ebenfalls aus Ueberlingen, an der Debatte. Auch er war – wie Herr Schmid – nur „zufällig“ anwesend, nach seinen Versicherungen. In klarer und ruhiger Art ging Herr Reichstagsabgeordneter Dietz auf die vorgebrachten Einwürfe ein und widerlegte sie schlagfertig, wie es einem langjährigen Parlamentarier eigen ist. Infolge der vorgeschrittenen Zeit war es nicht möglich, auf alle, zum Teil widerspruchsvollen Aeußerungen der Nationalsozialisten einzugehen. So behauptete z.B. Herr Schmid, auf eine Bemerkung des Herrn Abg. Dietz eingehend, bei ihnen würde niemand kommandiert, alles geschehe freiwillig, während nicht lange nachher sein Pg. Keil triumphierend meinte, sie hätten Leute, die ihren Kommandos gehorchen würden! Während Herr Schmid von der Wertschätzung der Religion durch die Nat.-Soz. sprach, äußerte er im selben Moment, daß die erste Frage bei ihnen lauten würde: „Bist du ein guter Deutscher?“, und erst dann käme die Frage nach der Religion, also ein Widerspruch grundsätzlicher Art. Es wäre auch interessant, auf die abstrakt gehaltene Auslegung des Begriffes „Arbeiterpartei“ durch Herrn Keil einzugehen, doch würde es an dieser Stelle zu weit führen. Im allgemeinen verursachte sonst die Anwesenheit der Nationalsozialisten keine nennenswerte Störung des Versammlungsbetriebes, abgesehen von einigen jüngeren Zwischenrufern und ihrem „Heil!“, wenn während der Versammlung einer der Ihren erschien. In dieser Beziehung kann man Herrn Rechtsanwalt Schmid vollauf verstehen und kann ihm nur zustimmen, wenn er mit anerkennenswerter Offenheit wörtlich sagte: „Die Leute, die zu uns kommen, haben Erziehung und Schulung nötig!“ – Mit nationalsozialistischer Phraseologie wird unser armes, zerrissenes und geknechtetes deutsches Vaterland gewiß nicht aus seinem Elend herausgeführt werden. Helfen kann hier nur stille, opferbereite Arbeit jedes Einzelnen im Dienste für Volk und Heimat, so, wie es jene Partei in ihrer langjährigen ruhmvollen Geschichte stets gehalten hat, deren Banner die Devise trägt: „Für Wahrheit, Freiheit und Recht!“